Neue Normalität ohne Blaupause

Seit Tagen geistert ein Begriff durch die Medien, der harmlos klingt. Vize-Kanzler Olaf Scholz soll die Formulierung „Neue Normalität“ angesichts der Entwicklungen der Corona-Pandemie in einer Fernsehsendung erstmals geprägt haben. Ich habe das nicht selbst gesehen, registriere jedoch, dass die Worte immer öfter zitiert werden. Seitdem frage ich mich: Was ist normal? Wer bestimmt das? Und was bitte soll „neue Normalität“ angesichts einer Situation, die noch niemand erlebt hat und deren Ende derzeit in keiner Weise seriös vorausgesagt werden kann, überhaupt konkret bedeuten?

In der Medizin (und anderen Wissenschaften) gibt es Normwerte. So lässt sich beispielsweise klar sagen, ob ein Kind im Vergleich zu seinen Altersgefährten zu klein oder zu groß ist und ob es altersgerecht entwickelt ist. Für Laborwerte gibt es Referenzbereiche, die herangezogen werden, wenn es darum geht, ob weiter diagnostiziert und/oder behandelt werden muss oder nicht. Trotzdem hört man Mediziner selten sagen: „Es ist alles normal.“ Eher: „Was wir untersucht haben, ist in Ordnung.“ Oder: „Der Wert XY liegt nicht im Normbereich. Es ist dieses und jenes angezeigt…“

Schwieriger wird es bei charakterlichen, persönlichen Merkmalen und psychischen Zuständen. Ist jemand Introvertiertes unnormal, nur weil sie/er nicht zu jedem Ereignis ihren/seinen verbalen Senf dazugeben will? Haben die, die schon vor sechs Wochen Gesichtsschutzmasken im öffentlichen Raum trugen, ohne onkologische oder immungeschädigte Patienten zu sein, eine Neigung zu Panik oder Zwangsverhalten? Und wenn ja, ist das angesichts der Lage normal oder nicht normal? Ist jemand, der nicht mit der Masse mitschwimmt, unnormal? Ist normal, was gegenwärtig ist? Das Reizwort „Maskenpflicht“ spaltet selbst Wissenschaftler, u. a. hier: „Deutschlands Arztpraxen befürworten mehrheitlich Maskenpflicht“.

Wer von neuer Normalität spricht, suggeriert, dass der aktuelle Alltag mit all seinen Beschränkungen normal sei. Doch das ist er nicht. Für niemanden. Die einen kommen besser damit zurecht, andere schlechter. Von manchen Entwicklungen wünscht man sich, dass sie bleiben, andere hätte man lieber vorgestern wieder abgeschafft. Eine „So-haben-wir-es-früher-gemacht“-Option gibt es in der Corona-Pandemie nicht.

Normal wäre wahrscheinlich, mich mit Do-it-yourself-Anleitungen für Gesichtsmasken zu beschäftigen. Und in der Freizeit welche zu basteln. Ich tue das nicht. Ich halte mich an die bekannten Hygieneregeln und an sonstige Corona-Umgangsempfehlungen. Droht allerdings Restriktion vor Menschlichkeit zu gehen, wie wenn sich Angehörige nicht von Sterbenden verabschieden dürfen oder Gebärende allein in den Kreißsaal sollen, muss in einer demokratischen Gesellschaft Kritik erlaubt sein. So habe ich die DGPFG unterstützt, Ihr fachliches Statement einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Andere medizinische Fachverbände haben sich ebenso positioniert. Mit Erfolg: renommierte Medien griffen das Thema auf. Zwischenzeitlich lassen einige Geburtskliniken Angehörige wieder bei der Geburt ihres Nachwuchses dabei sein. Selbstverständlich unter Einhalten der hygienisch gebotenen Maßnahmen.

Ich lese seit Wochen historische Bücher. Das ist heilsam angesichts von Diskussionen darüber, wie belastend das derzeitige Leben sei. Ich sage nicht, dass es einfach ist, erst recht nicht schön, aber es ist zu verkraften. Das sage ich wohlwissend, dass in Familie, Kollegen- und Freundeskreis teilweise massive (und echte) Existenznöte bestehen. Gerade hier will niemand etwas von „neuer Normalität“ hören. Denn das hieße, sich damit abzufinden. Abzufinden mit Anordnungen, die regelmäßig überprüft werden müssen, und abzufinden mit einem gebetsmühlenartig verbreiteten Horrorszenario vom Untergang des Abendlandes.

Menschen können so viel bewältigen. Ich habe das von ehemaligen KZ-Insassen, Überlebenden von politischer Haft und Gewaltopfern immer wieder gehört. Was sie über den Begriff „neue Normalität“ denken, wäre interessant. Ich glaube, die meisten würden das hinterfragen. Kritisch-konstruktives Denken führt zu kreativen Ideen, optimistischem Handeln und konkreter Veränderung. Und zu Nahsein auf Distanz. Freiwillig, aber nur so lange es wirklich nötig ist. Weniger Partys und weniger Konsum, mehr zwischenmenschliche Nähe und mehr Nachhaltigkeit – das wäre meine Assoziation für „neue Normalität“ nach dieser Krise. Aber was ist schon normal?

Foto: Dagmar Möbius

 

Aufkleber auf einem Papierkorb, gesehen in diesen Tagen in Brandenburg.

 

 

 

 

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