Sommerzeit heißt Aufarbeitungszeit. In den letzten Wochen gab es Texte fertigzustellen, eine Broschüre zu lektorieren, eine psychologische Weiterbildung zu absolvieren und einiges mehr. Nicht alles ist (sofort) für die Öffentlichkeit bestimmt. Über die im Juni 2023 in Magdeburg stattgefundene Veranstaltung der Interessengemeinschaft Gestohlene Kinder in der DDR konnte ich nicht zeitnah berichten. Sie war emotional, hatte einen hohen Wissenszuwachs und trug dazu bei, die Hoffnung auf Klarheit bei Betroffenen nicht versiegen zu lassen.
Suche nach der Wahrheit
Die Thematik von in der DDR Geborenen, die bis heute nach ihrer tatsächlichen Identität suchen, begleitet mich seit Jahrzehnten. Hauptsächlich aus Sicht der Kinder. Die ehrenamtlich arbeitende Interessengemeinschaft Gestohlene Kinder in der DDR (IGGKDDR) hatte sich 2013 gegründet, weil Eltern, vor allem Mütter, nach ihren Kindern suchen, die angeblich tot geboren oder kurz nach der Geburt gestorben sein sollen oder aus sonstigen Gründen vermisst werden.
IG-Gründer Andreas Laake, bekanntlich kein Mann langer Reden, hofft, alle vermissten Kinder zu finden: „Aber versprechen können wir das nicht.“ Auch die Journalistin Henriette Fee Grützner, beschäftigt sich seit 2016 mit dem Thema und ist inzwischen zur Expertin zum vorgetäuschten Säuglingstod in der DDR geworden. Sie will die Wahrheit herausfinden und wissen, was genau passiert ist. Mit einer Gedenkminute für alle verstorbenen Kinder begann die Moderatorin die Veranstaltung.
Aufarbeitung hat Lücken
Dass die Veranstaltung in Magdeburg stattfand, hat einen Grund. Die Medizinische Akademie Magdeburg, heute Universitätsklinikum Magdeburg, war zu DDR-Zeiten ein Zentrum für Frühgeburten. Der Rektor der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Prof. Dr. Jens Strackeljan, selbst Vater von vier Kindern, unterstützt die Aufarbeitung des dunklen Kapitels der DDR. „Ich habe zur Kenntnis genommen, dass die Aufarbeitung Lücken hat, das ist Fakt“, sagte er in einem Grußwort. Die Vergangenheit und Fehler müssten aufgearbeitet werden. Bereits angegangene Forschungsfragen könnten zwar nicht bei der Klärung individueller Fälle helfen, insgesamt aber schon. Dabei müsse ergebnisoffen vorgegangen werden. Der Rektor versprach, verstärkt Anliegen voranzutreiben, zum Beispiel, wenn irgendwo lagernde Dokumente ins Archiv überführt werden müssen. Die Universität Magdeburg werde ein Anlaufpunkt der wissenschaftlichen Aufklärung bleiben, für die auch hochschulische Mittel zur Verfügung gestellt werden sollen. Insbesondere müsse die Forschung klären, wie der damalige Ablauf bei (Früh-)Geburten bzw. Totgeburten war. Angesichts eines eigenen Krematoriums umso mehr.
Die Rolle der Windbeutel
Politiker*innen und Medien waren eingeladen. Es kam: niemand. „Manche helfen“, hat Henriette Fee Grützner erlebt. Doch es gebe auch viele Sonntagsreden, denen nichts folge. „Ihr müsst wissen, dass es kein ehrliches Interesse gibt“, wandte sie sich an die Anwesenden. Es gebe „richtige Windbeutel“, Namen wolle sie nicht nennen. Die Journalistin arbeitet an einem Buch über ihre bisherigen Recherchen. Noch sei sie unsicher, ob sie den Suchenden alle ihre Erkenntnisse zumuten könne. „Es ist unfassbar grausam“, sagte sie.
Immerhin: Eine private deutsche Fernsehproduktion recherchierte vor Ort und ein ungarisches Fernsehteam berichtete live.
Zwei Fälle – ähnliches Muster
Anke S. und NN berichteten über ihre erlebten Fälle von vorgetäuschtem Säuglingstod. Die Geburten fanden im Dezember 1986 in Brandenburg und im Mai 1987 in Sachsen-Anhalt statt. Das eine Kind ist (angeblich) nirgends beerdigt, das andere kam in ein Familiengrab. Auf einer Geburtsurkunde fand sich eine durchgestrichene Zahl. Dem anderen Kind durfte die Mutter keinen Namen geben, obwohl es kein Frühchen war. Ein Neugeborenes habe plötzlich einen Herzfehler gehabt und sei obduziert worden. Der Bericht wird der Mutter bis heute vorenthalten. Die systemtreuen Eltern und Großeltern der anderen damals 23-jährigen Alleinerziehenden hielten sie für nicht erziehungsfähig … Sie fragt: „Warum durften wir uns nicht verabschieden?“
Wichtige Öffentlichkeit und psychologische Hilfe
Alle, die ernsthaft zur Thematik recherchieren, kennen Behinderungen ihrer Arbeit, verschwundene Dokumente, Verzögerungstaktik und erheblichen Gegenwind. Henriette Fee Grützner berichtete sogar von erhaltenen Morddrohungen. Aber: „Das Thema wird immer größer. Gut, dass Ihr in die Öffentlichkeit geht“, ermunterte sie die Anwesenden. „Ihr habt sonst keine Lobby.“ Die Fernsehjournalistin hat 2022 ihren Job gekündigt und widmet nun die Hälfte ihrer Zeit dem Aufklärungsprojekt. Unter anderem ist eine Ansprechstelle geplant. Bei ihr haben gegenwärtig die Kinder Vorrang. „Das Wichtigste ist psychologische Hilfe“, ist sie überzeugt.
Detektiv für Herkunftsfragen
Alexander Alberts, selbst Adoptivkind, ist eigentlich Religionswissenschaftler. Die Suche nach seinen biologischen Eltern beschäftigte ihn jahrelang, bis er sie fand. So wurde der Hannoveraner nebenberuflicher DNA-Experte und gründete Deutschlands erste Detektei für DNA-Genealogie und Familiensuche. „Ich versuche, Teilwahrheiten zu finden, die Menschen weiterhelfen“, erklärte er. Kuckuckskinder, Soldatenkinder, Spenderkinder, Findelkinder, adoptierte Kinder, aber auch geraubte Kinder wenden sich an ihn. 16 Jahre sind die Jüngsten, weit über 80 Jahre die Ältesten.
Welche DNA-Tests es gibt, wie sie funktionieren und was man damit herausbekommen kann, erklärte er. Mehr als 60 Prozent der Fälle hält er für lösbar: „Sie haben gute Chancen, ihre echte Familie zu finden.“ Dennoch verschwieg er die Herausforderungen nicht: Handelt es sich um Täuschung/Kinderraub oder eine fehlerhafte Dokumentation? Die psychologische Dimension, die Rolle der Medien, die rechtliche Situation, die Privatsphäre und die Finanzierung der Herkunftssuche sind weitere zu beachtende Aspekte.
DNA-Datenbanken können ein Schlüssel zur Wahrheit sein. Wenn sie unter regulierten Bedingungen geführt werden, tragen sie dazu bei, biologisch verwandte Menschen wiederzuvereinigen und das Ausmaß von vorgetäuschtem Kindstod und Zwangsadoption besser darzustellen.
Fotos: Dagmar Möbius
Transparenzhinweis: Der Beitrag wurde am 18. Juli 2023 auf Bitte einer nach Aufklärung suchenden Mutter noch weiter anonymisiert.
Ich bin eine betroffene Mutter von vorgetäuschtem Säuglingstod. Meine Recherchen und Unterlagen lassen den Schluß zu, dass eines meiner 1985 geborenen Zwillingstöchter lebt. Ich habe auch eine Theorie, aber keine Beweise. Nur Vermutungen was damals passiert ist.
Mein größter Wunsch ist es, zu erfahren was damals wirklich gelaufen ist. Geht es meiner Tochter gut. Mehr möchte ich nicht. Die Zeit lässt sich nicht zurück drehen.
Ich wünsche mir, dass Mitwisser endlich reden, die Politik uns hilft.
Ich möchte zur Ruhe kommen und endlich Gewissheit.
Liebe Kommentatorin,
Ihre Nachricht so kurz nach Veröffentlichung des Beitrages zeigt, wie relevant die Thematik ist. Für jede*n einzelne*n Betroffene*n ist sie nicht nur Fiktion, wie der Tatort „Totes Herz“ im Vorjahr einige behaupten ließ.
Ich wünsche Ihnen wie allen noch Suchenden, dass Sie Klarheit bekommen. Auch ich werde weiter recherchieren.
Alles Gute und freundliche Grüße, Dagmar Möbius
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Unter diesen Link finden sie meine Geschichte.
Ich danke allen die uns bei der Aufarbeitung, das Unrecht was uns ind unseren Kindern angetan wurde unterstützen.
Die Veranstaltung in Magdeburg war sehr gut und hat uns mut gemacht nie aufzugeben..
Ich bitte alle Zeitzeugen ihr Schweigen zu brechen. Es ist die Vergangenheit und wir müssen in die Zukunft blicken und es besser machen. So etwas darf nie wieder passieren.