„Findet morgen um 10 Uhr statt“ – ohne mich

Jede/r Redakteur*in kann ein Lied von (zu) kurzfristigen Einladungen singen. Ich meine keine aktuellen Geschehnisse wie politische Gipfel oder Krisentreffen, Katastrophen oder Schadenslagen, die bei der Tagesberichterstattung ein großes Maß an Flexibilität und Improvisationsvermögen, manchmal auch Gelassenheit, erfordern.  Wer für Regionalmedien schreibt, ist mitunter sogar froh, wenn Termine kurz vor der Angst im Postfach landen. Doch die Mehrheit der Kolleg*innen, die ich kenne, wartet nicht auf Presseinladungen. Ich auch nicht. Warum?

Dazu erzähle ich gern ein Schlüsselerlebnis aus meiner ersten Zeit als Tageszeitungsreporterin in Brandenburg. Der Wochenend-Chef vom Dienst hatte mich an einem Samstagnachmittag in ein Dorf geschickt. Eingeladen hatte der örtliche Geschichtsverein. Es sollte eine Gedenktafel enthüllt werden. Aus der Kirche strömte eine riesige Traube Menschen. Dass der gerade zu Ende gegangene Gottesdienst etwas mit dem geplanten Ereignis zu tun hatte, erfuhr ich erst später, zufällig. Im Gemeinderaum traf ich den Kollegen vom Konkurrenzblatt. „Setzen Sie sich schon mal, ich komme gleich“, sagte ein Mann, der sich nicht vorstellte. Und war weg. Vier, fünf Dorfbewohner beäugten „die Neue“, also mich. Warum war die Presse eingeladen worden? Ich musste mich gedulden. Es konnte nicht losgehen, weil der Vereinschef nicht da war. Als er kam, macht er es kurz: „Fragen Sie einfach, was Sie wissen wollen!“ Der Kollege und ich wechselten einen vielsagenden Blick. Er war im Vorteil – er kannte solche Szenarien schon. „Warum sind wir heute hier?“, fragte er. Schon sprachen drei Leute durcheinander. Ohne Konzept, ohne Botschaft. Mit einem „Trick“ lösten wir die Runde auf. Wir wollten die neue Gedenktafel sehen. Doch die war noch verhüllt. Als sie offiziell eingeweiht war, konnten wir Jahreszahlen, das denkwürdige Ereignis und einen Zusammenhang erkennen. Man hatte sogar Zeitzeugen geladen. Sehr betagte Damen und Herren erzählten uns 70 Jahre alte Erlebnisse, als seien sie gestern geschehen. Wirklich eindrucksvoll. Aus einem „Was-soll-ich-hier?“-Termin wurde so doch noch ein informativer Zeitungsbeitrag.

Eines Vorabpressegespräches hätte es nicht bedurft, insbesondere nicht eines so unvorbereiteten.

Seit einiger Zeit arbeite ich nicht mehr für die Tagespresse, sondern meist fachspezifisch in meinen Schwerpunktthemen Gesundheit und Soziales. Das bedeutet einen ganz anderen Arbeitsrhythmus. Meine grobe Terminplanung umfasst mindestens die nächsten zwölf Monate, wobei Feinjustierungen im Quartalstakt erfolgen. Kongresse, Tagungen, Reisen, Recherchen, Interviews müssen organisiert und vereinbart werden und die inhaltliche Richtung der Beiträge muss strukturiert werden. Meine Auftraggeber wissen das. Sie planen mit mir. Nie von jetzt auf gleich. Das schafft Verlässlichkeit für beide Seiten. Trotzdem kann ich bei Relevanz spontan reagieren. Notfalls von einem Tag zum anderen oder von einer Stadt in eine andere. Aber nicht regulär. Termin und Thema müssen in mein Arbeitsgebiet passen oder es gibt (mindestens) einen anderen wichtigen Grund.

Einladungen wie zur Gedenktafeleinweihung bekomme ich ab und zu immer noch. Trotz DSGVO. Eine Zeitlang habe ich Stilblüten gesammelt. Der schrägste PR-Termin, zu dem ich einmal kommen sollte, war in einem Hunderestaurant in einer Hunderte Kilometer entfernten Großstadt. Leider habe ich nie erfahren, was es damit wirklich auf sich hatte. Aber wäre es wichtig oder wenigstens witzig gewesen, hätte ich es irgendwo gelesen.

Extrem kurzfristige Anfragen bei vorhersehbaren Ereignissen, wie zum Beispiel zu Jahrestagen oder Events, sprechen eine eigene Sprache. Entweder man hat vergessen, rechtzeitig die Medien zu informieren oder man erwartet „Hofberichterstattung“. Oder Beides. Wenig reizvoll für Journalist*innen.

Wer möchte, dass in der Presse berichtet wird (besser: dass Journalist*innen neugierig werden), muss ein paar Regeln beachten und sich dabei vom Nachrichtenwert leiten lassen. Je näher, prominenter, überraschender und/oder konfliktreicher etwas ist, umso aussichtsreicher ein Platz in Zeitung, Magazin, TV, Radio oder Internet.

Professor Christoph Fasel, damals Direktor der Henri-Nannen-Schule Hamburg, hat mir in einem Seminar eingeimpft, was noch interessant ist:

  • aktuell
  • exklusiv
  • superlativ
  • nutzwertig
  • emotional
  • menschlich
  • unterhaltsam

etc.

So weit die Theorie. In meiner Arbeit beackere ich meist Felder ohne Massenpublikum. Relevant sind die Themen trotzdem, nur für weniger Menschen. Für mich dankbarer als Starrummel jeglicher Coleur.

Dazu treffe ich mich auch kurzfristig auf dem Rastplatz oder auf einem Friedhof. Dann auch „morgen um 10 Uhr“. Wenn ich keinen anderen Termin habe. Und wenn es der Geschichte dient.

Foto: pixabay / pasja1000

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